Grazer Forscher identifizieren das Gen, dessen Mutationen zu erblichen Polyneuropathien führen. Die Aufklärung der molekularen Mechanismen nährt Hoffnung auf neue Behandlungsansätze.

 

Kribbeln an den Füßen, Brennen, Schmerzen, Muskelkrämpfe, Gangunsicherheit, Schwäche einzelner Muskeln, Muskelschwund: Polyneuropathien (PNP) sind Erkrankungen der peripheren Nerven, die zu erheblichen Gehproblemen und feinmotorischen Störungen in den Händen führen. Drei Prozent aller über 60-Jährigen leiden unter einer PNP, 50 Prozent aller Diabetiker entwickeln die Erkrankung. Die Ursachen einer PNP können vielfältig sein, häufig kommt die Schädigung des peripheren Nervensystems bei Stoffwechselstörungen, Infektionskrankheiten, Krebserkrankungen, schlechter Ernährung, im Rahmen einer toxischen Neuropathie bei Alkoholabusus oder als idiopathische Polyneuropathie vor. Charakteristischerweise werden die Beschwerden in Ruhe stärker. Die Behandlung einer PNP richtet sich nach der Ursache, allerdings ist diese zum Teil nicht bekannt: 20 Prozent der PNP sind ätiologisch ungeklärt.

 

ERBLICHE FORM HÄUFIGER ALS ANGENOMMEN

In den letzten Jahren kristallisierte sich immer mehr heraus, dass Polyneuropathien weitaus häufiger als bisher angenommen familiär gehäuft auftreten und vererbt werden. Hereditäre Polyneuropathien werden auch als Charcot-Marie-Tooth-Syndrom bezeichnet. Namensgeber waren drei Neurologen, die die Symptomatik am Ende des 19. Jahrhunderts erstmals beschrieben. Mit einer Prävalenz von 1 pro 2500 Einwohner ist das CMT-Syndrom die häufigste neurogenetische Erkrankung. Charakteristisch ist eine zunehmende Schwäche von Händen und Füßen, die sich auch auf Arme und Beine ausbreiten kann. Die Nervenerkrankung hat zur Folge, dass die Muskulatur nicht mehr genügend Impulse bekommt und sich zurückbildet. Die Beschwerden beginnen meist im Kindesalter und können sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. Auch innerhalb betroffener Familien werden oftmals leichte und schwere Verlaufsformen nebeneinander beobachtet. Da Fußdeformitäten zu den ersten Auffälligkeiten gehören, suchen viele Eltern anfänglich einen Orthopäden auf. Mit dem Fortschreiten der Erkrankung treten dann oft erhebliche Gangstörungen und feinmotorische Probleme kommen hinzu.

 

GENMUTATION FÜR ERBLICHE PNP IDENTIFIZIERT

Die Erforschung der genetischen Ursachen des CMT-Syndroms begann in den 80er Jahren. Dabei zeigte sich bald, dass es eine Vielzahl von Mutationen gibt, die das klinische Bild einer erblichen Polyneuropathie hervorrufen können. Diese genetischen Störungen sind über das ganze Genom verteilt und folgen unterschiedlichen Erbgängen. Trotz der Fortschritte in der Genanalytik haben aber viele Patienten in Österreich bis heute keine eindeutige Diagnose. Es ist außerdem davon auszugehen, dass die Dunkelziffer bei den erblichen Polyneuropathien nach wie vor recht hoch ist. Ein Forscherteam der Med-Uni Graz konnte kürzlich ein neues Gen und seine Mutationen identifizieren, das für die Entstehung bestimmter Formen erblicher Polyneuropathien verantwortlich ist. Mit der Entdeckung eines neuen CMT-Gens lieferte Univ.-Prof. Dr. Michaela Auer-Grumbach vom Institut für Humangenetik, der Klinischen Abteilung für Endokrinologie und Nuklearmedizin gemeinsam mit Dr. Christian Gülly vom Zentrum für Medizinische Grundlagenforschung einen wesentlichen Beitrag zur weiteren Erforschung der molekularen Mechanismen erblicher Polyneuropathien. Sie identifizierten in einer österreichischen Familie mit zehn betroffenen Personen eine Mutation des TRPV4-Gens, das auf dem langen Arm des Chromosoms 12 lokalisiert ist. Dieses Gen kodiert für ein Kalzium-Ionenkanalprotein. Aufgabe dieses Proteins ist unter anderem die Regulation des zellulären Kalziumgleichgewichts als Antwort auf eine Vielzahl äußerer Reize wie zum Beispiel Mechanostimulation, Druck oder Wärme.

 

DEM KRANKHEITSMECHANISMUS AUF DER SPUR

Es gelang der Arbeitsgruppe nicht nur, die neue Genmutation zu identifizieren, sondern auch die funktionellen Auswirkungen auf Proteinebene zu charakterisieren. Die Forscher untersuchten außerdem vier weitere Familien mit ähnlicher klinischer Symptomatik und entdeckten dabei zwei weitere neue Mutationen des TRPV4-Gens, die alle zu Änderungen in einer für die korrekte Strukturausbildung essentiellen Domäne des TRPV4 Kanals führen. „Aus diesem Wissen ergeben sich neue Ansätze, um zukünftig eine wirkungsvolle Therapie für Menschen mit dieser Erkrankung zu entwickeln“, hebt Univ.-Prof. Auer-Grumbach die Bedeutung ihrer Arbeit hervor. Neben der Aussicht auf neue Behandlungsansätze bedeuten die neuen Erkenntnisse für die betroffenen Patienten, dass sie nun nach oft jahrelanger Ungewissheit eine verbindliche Diagnose erhalten. Zudem hilft dieses Wissen bei der besseren Abschätzung des Krankheitsverlaufs und des Weitervererbungsrisikos und damit auch bei der besseren Bewältigung der Erkrankung.


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*Artikel: Monika Lerch