Bei den etwa 30 000 Patienten in Deutschland, die von hereditären motorisch-sensiblen Neuropathien (HMSN) betroffen sind, wurden inzwischen mehrere ursächliche Mutationen bekannt. Dadurch ist erstmals eine direkte und gesicherte Diagnose dieser Erkrankungen möglich.

Die hereditären motorisch-sensiblen Neuropathien (HMSN) stellen mit einer Prävalenzvon 20 bis 40/100 000 Einwohner eine der häufigsten hereditären neurologischen Erkrankungen des Menschen dar. 1886 beschrieben Charcot und Marie sowie Tooth erstmals ein Syndrom der "peronäalen Muskelatrophie", das gekennzeichnet war durch langsam progrediente, distal symmetrische, schlaffe Paresen bei nur geringen sensiblen Ausfällen. Déjérine und Sottas berichteten 1893 über eine autosomal rezessiv vererbte, "hypertrophische, progressive Neuritis", bei der bereits im frühen Kindesalter eine deutliche Verdickung der peripheren Nerven vorlag. Die in der neurologischen Literatur am weitesten verbreitete Klassifikation nach Dyck und Lambert unterscheidet heute unter Berücksichtigung neurophysiologischer und morphologischer Befunde verschiedene Formen der "hereditären motorisch-sensiblen Neuropathie" (HMSN)


Die hereditären motorisch-sensiblen Neuropathien Typ 1
Klinisch besteht bei Patienten mit hereditären motorisch-sensiblen Neuropathien Typ 1 (HMSN 1) eine langsam progrediente, vorwiegend motorische, demyelinisierende Polyneuropathie mit distal symmetrischen Paresen. Die atrophisierenden Paresen beginnen an der Fuß- und Unterschenkelmuskulatur, so daß sich häufig die typischen "Storchenbeine" entwickeln. Später können auch Lähmungen der oberen Extremitäten auftreten. Die Muskeleigenreflexe der unteren Extremitäten fehlen meist bereits vor Manifestation der Paresen. Die ebenfalls distal lokalisierten Sensibilitätsstörungen sind gegenüber den motorischen Defiziten deutlich geringer ausgeprägt, schmerzhafte Dysästhesien kommen vor. Daneben werden häufiger vasomotorische Störungen, Kältegefühle der Beine oder livide Marmorierungen der Haut beobachtet. Verschiedene weitere mögliche Zusatzsymptome sind im Textkasten aufgeführt. Wesentliche Grundlage zur Unterscheidung der demyelinisierenden Formen - HMSN 1 und 3 - von der axonalen HMSN 2 ist die Nervenleitgeschwindigkeit (NLG) , die bei der HMSN 1 im N. medianus motorisch auf unter 38 m/s verlangsamt sein sollte. Die Verzögerung der NLG ist in motorischen und sensiblen Nerven gleichmäßig über allen Nervensegmenten zu messen und bereits vor der klinischen Manifestation nachweisbar. Morphologisch finden sich Veränderungen im Sinne einer chronischen De- und Remyelinisierung. Nahezu alle Patienten erkranken bis zur Mitte der dritten Dekade. Der Verlauf ist meist langsam und gutartig; zwar werden etwa 20 Prozent der Patienten durch die Erkrankung im Alltag deutlich behindert, aber nur wenige benötigen einen Rollstuhl.
Inzwischen konnten in molekulargenetischen Untersuchungen verschiedene pathogene Mutationen nachgewiesen werden, die erstmals eine direkte Diagnostik erlauben und Möglichkeiten zur Untersuchung des Krankheitsmechanismus eröffnen. Nachdem zunächst eine Koppelung zwischen einer autosomal dominanten HMSN 1 und dem Chromosom 1 (HMSN 1B) nachgewiesen wurde, sind als Ursache inzwischen Punktmutationen im dort lokalisierten Gen des Myelinproteins P0 bekannt . Bei anderen Patienten wurde eine Koppelung zum Chromosom 17 festgestellt. Dieser HMSN 1A liegt meist eine Duplikation von 1,5 Megabasenpaaren (mbp) auf dem kurzen Arm des Chromosom 17 zugrunde, die den Genort für das Myelinprotein PMP22 umfaßt. PMP22 kommt neben dem peripheren Myelin während der Embryonalentwicklung, aber auch in anderen Geweben vor; hier führt der Defekt jedoch zu keinen merklichen Störungen. Die Krankheit wird autosomal dominant vererbt. Sie kann aber auch als Folge einer Duplikation durch ungleiches "crossing-over" in der männlichen Meiose spontan entstehen und dann als Neumutation auftreten.
Die Überexpression des PMP22-Gens, das aufgrund der Duplikation eines der beiden Allele in drei Kopien vorliegt, scheint den Phänotyp der HMSN 1A hervorzurufen. Patienten, bei denen die Duplikation in homozygoter Form vorliegt, das entsprechende DNA-Segment also vierfach vorhanden ist, weisen eine deutlich ausgeprägtere Symptomatik mit schwereren Defiziten und früherem Erkrankungsalter auf. Bei klinisch gesicherter HMSN 1 war in einer europäischen multizentrischen Untersuchung die Duplikation auf Chromosom 17 bei bis zu 70 Prozent der Patienten vorhanden, bei unseren Patienten bei etwa 50 Prozent. Die klinischen, neurophysiologischen und morphologischen Befunde bei diesen HMSN-1A-Patienten unterscheiden sich nicht von denen der gesamten HMSN-1-Gruppe. Auch in der genetisch homogenen Gruppe der HMSN 1A mit Duplikation bleibt die klinische und neurophysiologische Heterogenität bestehen: normale Muskeleigenreflexe, Pyramidenbahnzeichen, Wadenhypertrophie oder ein leichter Haltetremor wurden beobachtet, vereinzelt beträgt die motorische NLG im N. medianus auch mehr als 38 m/s . Ein neurophysiologisch normaler Träger der Duplikation ist dagegen bisher nicht bekannt geworden. Der Gendefekt ist deshalb vollständig penetrant.
Wesentlich seltener liegt einer HMSN 1A auch eine Punktmutation im PMP22-Gen zugrunde. Die klinischen und morphologischen Veränderungen können dabei deutlicher ausgeprägt sein als im Fall der Duplikation. Zuweilen nimmt die Symptomatik in der Generationsfolge an Schwere zu. Auch bei der X-chromosomal vererbten HMSN X1 konnten inzwischen verschiedene Mutationen nachgewiesen werden, die den Genort des Gap-junction-Proteins Connexin32 (Cx32) betreffen. Klinisch entspricht die Symptomatik derjenigen der HMSN 1. Weibliche Familienmitglieder sind meist betroffen, wenn auch in der Regel weniger deutlich als männliche. Die NLG kann nahezu normal sein und so die Diagnose einer HMSN 2 nahelegen. Koppelungen der HMSN 1 zu verschiedenen weiteren Genorten sind unter Typ 2 beschrieben..


Die hereditären motorisch-sensiblen Neuropathien Typ 2
Der Typ 2 der HMSN ist klinisch dem Typ 1 ähnlich. Das durchschnittliche Erkrankungsalter ist aber etwas höher als bei der HMSN 1, der Verlauf noch langsamer. Auch bei der HMSN 2 können verschiedene Zusatzsymptome vorkommen. Die Unterscheidung zwischen den HMSN Typ 1 und 2 erfolgt neurophysiologisch und morphologisch:

die NLG ist bei HMSN 2 normal oder nur diskret verzögert, morphologisch finden sich Zeichen einer axonalen Neuropathie.     (auch analog einer Small fibre Neuropathie)

Der Erbgang ist meist autosomal dominant,

seltener rezessiv. Die HMSN 2 ist nicht an die von der HMSN 1 her bekannten Genloci gekoppelt, vereinzelt wurde ein Zusammenhang mit Genorten auf den Chromosomen 1 und 8 beschrieben.


Die hereditären motorisch-sensiblen Neuropathien Typ 3
Die HMSN 3 entspricht der von Déjérine und Sottas beschriebenen "hypertrophischen Neuritis" und ist gekennzeichnet durch eine demyelinisierende Neuropathie, die sich bereits in der ersten Lebensdekade manifestiert. Die motorische Entwicklung ist oft verzögert. Neben distal betonten Paresen mit generalisiertem Reflexverlust sind ausgeprägte Sensibilitätsstörungen kennzeichnend, schmerzhafte Mißempfindungen sind häufig. Pupillenstörungen, Skelettveränderungen und ein erhöhtes Liquoreiweiß sind typisch, rezidivierende Verläufe wurden beschrieben. Der Verlauf der HMSN 3 ist oft rasch progredient, sowohl die Schwere der neurologischen Symptomatik als auch das Ausmaß der Skelettveränderungen führen häufiger zu einer Invalidisierung mit Gehunfähigkeit. Die motorischen Nervenleitgeschwindigkeiten sind auf unter 10 m/s verlangsamt. Die Abgrenzung gegenüber entzündlichen Neuropathien kann schwierig sein. Morphologisch betrifft die Demyelinisierung nahezu alle myelinisierten Nervenfasern. Ihre Dichte ist deutlich reduziert: Zwiebelschalenformationen und endoneurale Kollagenablagerungen sind für die ausgeprägte Nervenverdickung verantwortlich. Familienuntersuchungen sprachen für einen autosomal rezessiven Erbgang. Molekulargenetisch fand sich bisher aber vorwiegend eine Heterozygotie für Punktmutationen im PMP22- und P0-Gen. Da diese heterozygoten Mutationen zur Erkrankung führen, muß ein dominanter Erbgang angenommen werden, so daß die Grenze zur HMSN 1 zunehmend verwischt.


Hereditäre Neuropathie mit Neigung zu Druckläsionen
Die "hereditäre Neuropathie mit Neigung zu Druckläsionen" (hereditary neuropathy with liability to pressure palsies, HNPP) ist durch eine erhöhte Empfindlichkeit der peripheren Nerven gegenüber minimalen mechanischen Traumata gekennzeichnet. Klinisch sind rezidivierende Drucklähmungen peripherer Nerven typisch. Nach der akut aufgetretenen Läsion bilden sich die senso-motorischen Ausfälle meist innerhalb von Tagen bis Wochen vollständig zurück, besonders nach wiederholten Traumata können aber auch Restsymptome persistieren. Schmerzhafte Sensationen werden nur selten beobachtet. Die Nervenleitgeschwindigkeit ist in den betroffenen Nerven fokal verzögert mit Leitungsblockierungen. Darüber hinaus kann die NLG aber distal betont auch diffus vermindert sein. Morphologisch finden sich neben segmentalen De- und Remyelinisationszeichen typischetomakulöse ("würstchenförmige") Myelinverdickungen. Molekulargenetisch konnte bei bis zu 85 Prozent der Patienten mit HNPP eine Deletion desselben Chromosomenabschnitts nachgewiesen werden, der bei HMSN 1A dupliziert ist. HNPPPatienten sind für die betreffende chromosomale Region damit hemizygot. HMSN 1A und HNPP sind die ersten Erkrankungen beim Menschen, die sich durch Duplikation und Deletion zueinander reziprok verhalten.


Diagnostik und therapeutische Möglichkeiten
Die dargestellten molekulargenetischen Erkenntnisse können vorwiegend in der Diagnostik eingesetzt werden. Bei der Erstdiagnostik einer HMSN erfolgt entsprechend der klinischen und neurophysiologischen Diagnostik zunächst die Zuordnung zu einem Subtyp. Neben der Familienanamnese ist hier die NLG der entscheidende Parameter. Dabei sind die erwähnten Grenzwerte entscheidend, aber bei der HMSN 1 auch die gleichmäßige Verzögerung der NLG über alle Nervenabschnitte. Eine segmental sehr unterschiedliche NLG oder sogar eine Leitungsblockierung läßt dagegen eher an eine HNPP oder auch eine chronisch entzündliche Neuropathie (CIDP) denken.

Bei Verdacht auf eine HMSN 1 oder HNPP sollte die molekulargenetische Suche nach der 17p11.2 Duplikation/Deletion angeschlossen werden, noch vor invasiven Untersuchungen wie der Nervenbiopsie.

Der Nachweis der Duplikation/Deletion kann mittels Southern Blot an extrahierter oder durch Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH) an Zellkernen erfolgen. Die FISH-Diagnostik erfordert etwa 10 ml heparinisiertes Vollblut, die SouthernBlot Untersuchung 10 ml EDTA-Blut. Die FISH-Analyse ist auch an archiviertem Biopsiematerial möglich. Beide Techniken erlauben den Nachweis der HMSN 1A und der HNPP, aber nicht die Analyse von Punktmutationen. Die Suche nach diesen Mutationen ist wesentlich aufwendiger, da sie in drei Genen (PMP22, P0 und Cx32) erfolgen muß.

 

Bevor diese Untersuchungen durchgeführt werden, sollten unbedingt umfangreiche und aussagekräftige klinische, neurophysiologische und familienanamnestische Angaben vorliegen. So kann beispielsweise in Familien, in denen eine Übertragung der Krankheit vom Vater auf männliche Nachkommen bekannt ist, ein Xchromosomaler Erbgang ausgeschlossen werden und auf eine Sequenzierung des Cx32-Genortes verzichtet werden. Aufgrund der wesentlich längeren Dauer der Punktmutationsanalyse muß im Einzelfall entschieden werden, ob zum Ausschluß einer entzündlichen Neuropathie zunächst eine Nervenbiopsie durchgeführt werden sollte. In Familien, in denen die Mutation bekannt ist, kann eine Untersuchung noch asymptomatischer Angehöriger auch im Rahmen einer Pränataldiagnostik durchgeführt werden. Da eine kausale Therapie dieser Erkrankungen nicht möglich ist, eine Beeinflussung des Verlaufs in diesem Stadium nur begrenzt erfolgen kann und eine medizinische Indikation zur Schwangerschaftsunterbrechung kaum besteht, kann über die Notwendigkeit dieser Untersuchungen aber gestritten werden.

In jedem Fall sollte eine solche prädiktive Diagnostik entsprechend den Richtlinien nur im Rahmen einer eingehenden genetischen Beratung erfolgen.


Eine genetische Diagnostik bei HMSN 2 ist derzeit noch nicht erfolgversprechend, außer bei den wenigen Patienten mit grenzwertig verlangsamter NLG, bei denen die Mutationssuche im Connexin32-Gen sinnvoll sein kann. Neben der Bedeutung der genannten Mutationen für die Diagnostik ermöglicht die Analyse der durch sie bedingten Erkrankungen Rückschlüsse auf Funktion und Aufbau des peripheren Myelins. Sollte die zum Teil sehr unterschiedliche Schwere des klinischen Bildes - bei ähnlichen Mutationen - durch zusätzliche Regulationsstörungen bedingt sein, könnte sich auch erstmals ein Ansatz zur kausalen Therapie ergeben. Eine solche kausale Therapie der HMSN ist bisher aber nicht möglich. Regelmäßige aktive Physiotherapie ist die wesentliche symptomatische Therapieform, um Muskelkraft und Beweglichkeit möglichst lange zu erhalten. Eine zusätzliche Schädigung durch Muskeltraining muß nicht befürchtet werden. Passive Techniken können unterstützend angewendet werden und in plegischen Extremitätenabschnitten Kontrakturen vorbeugen. Zusätzliche Schädigungen der peripheren Nerven durch mechanische, toxische oder nutritive Einwirkungen müssen vermieden werden. Dies gilt besonders, aber nicht nur, für die HNPP. Orthopädische Korrekturen von vorhandenen Fehlstellungen sollen die Funktion verbessern und der Ausbildung weiterer Deformitäten vorbeugen. Gegebenenfalls muß frühzeitig eine Versorgung mit Hilfsmitteln erfolgen.


In memoriam Prof. Dr. Claus Meier (Bern, Walenstadt)


Download
HMSN Formen und Erläuterungen -Auszug aus dem eigenem Befundbericht -Humangenetisches Gutachten- der Medizinischen Genetik vom 25.04.2018
Zur neuralen Muskelatrophie vom Typ Charcot-Marie-Tooth (CMT-Hereditäre motorische und sensomotorische Neuropathie, HMSN Quelle: Bernd Ihlefeldt
Ausführungen zur HMSN-CMT.pdf
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Zusammenfassend

Es handelt sich bei der HMSN um eine genetisch sehr heterogene, erbliche Erkrankung des Nervensystems, die sowohl die motorischen Fähigkeiten (Bewegung) als auch die sensorischen Fähigkeiten (Empfindung) beeinflussen kann. Die Erkrankung wird nach Ihren Entdeckern auch Charcot-Marie-Tooth (CMT) genannt. Die HMSN ist eine Erkrankung der peripheren Nerven, bei der die isolierende Schicht um die Nerven (Myelinschicht) und/oder die Nervenfasern selbst zugrunde gehen. Charakteristisch ist eine symmetrische, distal betonte Muskelschwäche bzw. - atrophie. Meistens sind zunächst die Fuß- und Wadenmuskulatur betroffen, später auch die Handmuskeln. Fußdeformitäten wie Hohlfüße und Krallenzehen gehören zum klinischen Bild. Die sensiblen Ausfälle sind im Allgemeinen geringer ausgeprägt. In den meisten Fällen ist die Erkrankung langsam progredient, mit sehr variablem Verlauf. In den meisten Fällen folgt die HMSN einem autosomal dominanten Erbgang. Dies gilt sowohl für die HMSN I (demyelinisierender Typ) als auch für die HMSN II (axonaler Typ). Die X-chromosomale Vererbung ist bei der HMSN ebenfalls nicht selten. Insgesamt liegt molekulargenetisch am Häufigsten eine Duplikation des PMP22-Gens zugrunde. Die entsprechende Deletion des PMP22-Gens führt zu einer Neuropathie mit Neigung zu Druckläsionen.